Für die Allianz-Versicherung wird der Wettbewerb zwischenzeitlich von der Digitalisierung bestimmt. Sie muss technologisch Schritt halten, Lösungen für ein verändertes Kundenverhalten finden und neue Formen der Zusammenarbeit etablieren. Um seinen Kunden das bestmögliche Serviceerlebnis zu bieten, trainiert das Unternehmen die Belegschaft in agilen Methoden und setzt gleichzeitig darauf, bewährte Prozesse und Strukturen in seine Zukunftskonzepte zu integrieren.

Erika Kovacs ist Product Owner für Altersvorsorge Bestandskundenservices im Agile Training Center (ATC) in Stuttgart. In der Stuttgarter Silberburgstraße entwickelt die Wirtschaftsinformatikerin gemeinsam mit Softwareentwicklern, UX-Designern und Versicherungsexperten digitale Produkte und Services, die künftig die klassische Beratung der Allianz-Vermittler perfekt ergänzen und so den Kunden einen umfassenden Service bieten sollen. Dabei trainieren und testen die Mitarbeiter agile Arbeitsformen, um ihre Erfahrungen anschließend in die Hauptverwaltung zu übertragen.

Zukunft im Testbetrieb

Das Team von Erika Kovacs arbeitet in der Co-Location – wo alle zusammensitzen, die direkt an einem Thema beteiligt sind. Wie sie ihre Aufgaben lösen, organisieren die Teammitglieder weitgehend selbst. Ansage ist: Unternehmerisch denken und handeln, Experimente zulassen und vor allem die Kunden in die Entwicklung einbeziehen. Insgesamt arbeiten 80 Experten an sechs verschiedenen Projekten im ATC. Es herrscht Start-up-Atmosphäre. Die Teams pitchen beim Management um ihre Budgets und legen alle 100 Tage Rechenschaft darüber ab, wo sie stehen. Zum Konzept gehören die Fokussierung auf ein Thema, tägliche kurze Teammeetings sowie Pair-Programming, bei dem immer zwei Softwareexperten gemeinsam entwickeln. In ihrer Rolle als Product Owner ist Erika Kovacs ständig im Kontakt mit den Kunden, aber auch mit internen Fachbereichen und dem Vorstand, ein Scrum-Master steuert die methodische Zusammenarbeit des Teams. Um den Austausch zwischen der traditionellen und der neuen Allianz-Welt zu fördern, wurde die agile Einheit bewusst nur wenige Laufminuten entfernt von der Hauptverwaltung eingerichtet.

Dr. Sören Kupke, Fachbereichsleiter Kunden-Portale und Verkaufsprozesse

Dr. Sören Kupke, Fachbereichsleiter Kunden-Portale und Verkaufsprozesse, Allianz Deutschland AG

„Für unsere digitale Transformation gibt es keinen Masterplan. Wir müssen schlichtweg gemeinsam ausprobieren, gegebenenfalls nachsteuern und manches auch wieder verwerfen. Es braucht einen mutigen Schritt, selbst wenn dieser zunächst zu einer gewissen Unzufriedenheit führt. Trotzdem werden wir sensibel vorgehen und den Change-Prozess nicht übertreiben.“

Unter den ATC-Mitarbeitern sind auch Experten für Kundenportale und Verkaufsprozesse von Dr. Sören Kupke. Der Fachbereichsleiter will möglichst bald alle Mitarbeiter seiner vier Referate in agilen Arbeitsweisen fit machen. Im nächsten Schritt sollen dann alle 300 Kollegen aus dem Umfeld der Digitalisierung in Projektteams zusammen-sitzen. Dazu wurde auch in der Hauptverwaltung eine erste Co- Location-Fläche geschaffen. Das geht nicht nur mit räumlichen, sondern auch mit arbeitsorganisatorischen Veränderungen einher: Telefonate und Dokumentenablage werden künftig nur noch digital organisiert, die Referats- und Fachbereichsleiter sitzen direkt bei ihren Mitarbeitern. Ein Teil der Verantwortung wurde in die Teams verlagert und beispielsweise auf die neu eingeführten Product Owner übertragen. Die Führungskräfte konzentrieren sich verstärkt auf die Steuerung der Ressourcen und darauf, den Teams beste Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu schaffen.

Traditionelle Einheiten und neue Arbeitsformen existieren nebeneinander

Dass solche Veränderungen die Belegschaft beschäftigen, ist dem Allianz-Management bewusst – langjährige Mitarbeiter haben schließlich über Jahrzehnte andere Arbeitsweisen gelernt. Sören Kupke setzt deshalb auf intensive Kommunikation mit seinem Team. Er zeigt auf, wo der Weg hinführen soll und vermittelt immer wieder auch den Sinn der Veränderungen. Vorbehalte nimmt der Digitalisierungsexperte sehr ernst und sucht gemeinsam mit den Mitarbeitern nach einer guten Lösung für mögliche Schwachstellen.

Gerhard Ruf, Referat Talent- und Changemanagement

Gerhard Ruf, Referat Talent- und Changemanagement, Allianz Deutschland AG

„Damit aus vielen Einzelprojekten eine Erfolgsgeschichte wird, fungiert das Personalressort als wichtiger Wegbegleiter. Wir unterstützen individuell, beispielsweise beim Start neuer Projektteams, in den Reviews oder bei Konflikten. Auch Einzel- und Gruppen-Coachings für die verschiedenen Führungsrollen gehören zum Angebot. Um den Kulturwandel voranzubringen, beraten wir das Management bei der Change-Kommunikation und fördern mit regelmäßigen Dialogformaten den Austausch zwischen allen Betroffenen.“

Die Allianz pflegt bewusst ein Nebeneinander verschiedener Organisationsformen und ist in Bereichen ohne direkte Kundenschnittstelle nach wie vor nach der klassischen Arbeitsweise organisiert. Langfristig geht es nicht darum, alles über Bord zu werfen, sondern die bestmögliche Organisationsform für jedes Thema zu finden. Impulse für Veränderungen kommen in der Regel aus den Fachressorts – um die Mitarbeitersicht zu berücksichtigen, sitzen immer auch betroffene Teammitglieder und der Betriebsrat mit am Tisch.

Als Sondermaschinenbauer ist es Jürgen Holz gewohnt, sich ständig auf neue Anforderungen seiner Kunden einzustellen. Der Ingenieur ist Geschäftsführer der Holz automation in Backnang. Um sich auf die Smart Industry vorzubereiten, hat er jetzt auch in seinem eigenen Betrieb tief greifende Veränderungen angestoßen und die Zusammenarbeit neu organisiert. In sich selbst steuernden Teams sollen künftig jeder seiner 70 Mitarbeiter und die 11 Auszubildenden aktiv mitgestalten, wohin sich das Unternehmen entwickelt.

Maschinen sind nicht nur das Geschäft von Jürgen Holz, sondern auch seine große Leidenschaft. Wenn der technikbegeisterte Unternehmer darüber spricht, wie rasant sich Rechnerleistungen, Datenmengen und die Fähigkeiten von Robotern zukünftig verändern werden, mischen sich Respekt vor dem Wandel mit der Lust, dabei maßgeblich mitzumischen. Das Spezialgebiet von Holz ist die Automatisierung – Maschinen, die untereinander kommunizieren sind heute bereits Standard. Künftig werden sich ganze Fabriken selbst organisieren. Der Firmenchef ist sicher: „Als einzelner Mensch lässt sich die wachsende Komplexität schon bald nicht mehr beherrschen.“ Er setzt deshalb auf die Intelligenz des Schwarms und will seine Belegschaft bei allen wichtigen Weichenstellungen mit ins Boot holen. „Vom IQ zum WeQ“ bringt er seine Vision auf den Punkt.

Von der klassischen Pyramide zur flexiblen Organisation

Dipl.-Ing. Jürgen Holz, Geschäftsführer HOLZ automation GmbH

Dipl.-Ing. Jürgen Holz, Geschäftsführer HOLZ automation GmbH

„Den wachsenden Herausforderungen unserer Branche werden wir nur gerecht, wenn wir gemeinsam nach Lösungen suchen – in interdisziplinären Teams, die sich selbstgesteuert organisieren und weiterentwickeln. Denn die Intelligenz einer Gruppe ist weit höher als die des Einzelnen. Um langfristig herausragende Ergebnisse zu erzielen, müssen wir deshalb diese Teamkompetenz im ganzen Unternehmen zu etablieren. Durch den intensiveren Austausch untereinander werden sich auch die einzelnen Mitarbeiter schneller entwickeln als bisher.“

Erste Schritte hat er bereits gemacht: Die Firmenstruktur lässt sich heute als Organigramm- Rad visualisieren, dessen stabile Achse die Unternehmenswerte bilden. Drum herum sind flexible, untereinander eng vernetzte Organisationseinheiten entstanden, die sich an den Kernprozessen Vertrieb, Projektleitung, Technologie, Einkauf, Fertigung und Montage orientieren. Auftragsabhängig bilden sich daraus flexible Projektteams, in denen Mitarbeiter in immer wieder neuen Konstellationen zusammenarbeiten. Um zwischen Konstruktion, Elektroplanung und IT übliche Reibungsverluste zu verhindern, werden diese von einem verantwortlichen Mitarbeiter in einer neu gegründeten Technologie-Abteilung gemeinsam gesteuert. Wichtige Entscheidungen trifft Jürgen Holz demokratisch in einem sogenannten Kernteam, zu dem seine Frau Stephanie und fünf weitere Mitarbeiter gehören. Das alles soll dazu dienen, effizienter zu werden, Entwicklungen aus den Teams heraus anzustoßen und die fachlichen Ressourcen der Einzelnen bestmöglich zu nutzen.

„Um zukünftig wettbewerbsfähig zu bleiben, reicht das aber nicht aus“, ist Holz sicher. Langfristig will er seinen Betrieb als „Team of Teams“ organisieren, in dem jeder einzelne Mitarbeiter erkennt, wo es Veränderungsbedarf gibt und seinen speziellen Blickwinkel in die Unternehmensentwicklung einbringt. Um seine Belegschaft dahingehend zu befähigen, informiert er sie alle zwei Monate ausführlich, beispielsweise über neue Aufträge, die Finanzen oder anstehende Entscheidungen. Gleichzeitig hat er einen umfangreichen Teaming-Prozess gestartet, der die Kooperations- und Veränderungskompetenz der Mitarbeiter fördert. Er besteht aus fünf aufeinander aufbauenden Workshops, die alle Teams durchlaufen. Hier lernen die überwiegend technisch ausgebildeten Fachleute nicht nur, wie unterschiedliche Persönlichkeitstypen noch professioneller zusammenarbeiten können. Ziel ist, sich entwickelnde, agile Teams zu schaffen, die das Silodenken verlassen haben, gemeinsam lernen und die Probleme dort lösen, wo sie auftauchen.

Stephanie Holz, Personalmanagement

Stephanie Holz, Personalmanagement

„Wir haben uns umfassend Gedanken darüber gemacht, wie sich optimale Räumlichkeiten gestalten lassen, die zu uns passen. Die älteren Betriebs-gebäude und ein Neubau verbinden heute traditionelle Substanz mit modernem Design und stehen damit symbolisch für die Philosophie des Unternehmens. Mit künftigen Erweiterungen wollen wir vor allem Zonen schaffen, in denen sich die Mitarbeiter noch besser untereinander abstimmen, aber auch gemeinsam kochen und feiern können.“

Enge Beziehungen und visionäre Ideen sind Eckpfeiler der Firmenkultur

Auf der persönlichen Ebene haben die Beziehungen untereinander bei Holz schon immer sehr gut funktioniert. Dass die positive und familiäre Atmosphäre weiterhin eine prägende Rolle spielen wird, dafür sorgt neben den Mitarbeitern Stephanie Holz. Die Frau des Geschäftsführers kümmert sich darum, dass das Miteinander klappt und sich die Beschäftigten im Unternehmen wohlfühlen. Auch der fachliche Austausch soll in der Zukunft noch enger und flexibler werden – und zwar selbst dann, wenn das Unternehmen weiter wächst.

Mehr zu HOLZ?

In der Krise die Zukunft gestalten: Gemeinsam haben wir dafür die besten Ideen

Prof. Dr. Stephan Fischer

Prof. Dr. Stephan Fischer

Organisationen brauchen die Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen, wenn sie überleben wollen. Wie gut den Firmen dies gelingt und wie sie agiler werden können, ist ein Schwerpunkt der Forschungsarbeit von Professor Stephan Fischer. Der HR-Experte begleitet die Professur für Personalmanagement und Organisationsberatung der Hochschule Pforzheim. Er untersucht die Bedingungen und Grenzen von Agilität und geht auch der Frage nach, wie sich die digitale Transformation auf das Personalmanagement auswirkt. Im Gespräch mit ihm wollten wir wissen, wie wichtig Agilität tatsächlich ist und ob es auch ein Zuviel davon geben kann.

Talente: Herr Prof. Dr. Fischer, Sie beschäftigen sich seit Langem mit Veränderungsprozessen in Organisationen. Wie schaffen es Firmen, sich erfolgreich zu verändern?

Prof. Dr. Stephan Fischer: Der erste Schritt besteht immer darin, Veränderungen rechtzeitig zu erkennen und ihre Relevanz für den eigenen Betrieb zu bewerten. Dazu müssen die Firmen ihre Umwelt sehr genau beobachten und sollten auch interne Entwicklungen, wie beispielweise ein Wertewandel bei den Beschäftigten, auf dem Schirm haben. Zur Transformationskompetenz gehört es zudem, möglichst schnell und angemessen zu reagieren, und sich von negativen Auswirkungen zügig zu erholen. Die passende Antwort ist immer abhängig davon, wie tief greifend ein Unternehmen von den gegenwärtigen Veränderungen betroffen ist. Ein innovativer Wandel, bei dem sich bestehende Produkte oder Technologien weiterentwickeln, erfordert andere Maßnahmen als disruptive Veränderungen, die ganze Geschäftsmodelle einer Branche auf den Kopf stellen.

Agilität ist also nicht immer die passende Antwort auf die Herausforderungen, die sich durch die Digitalisierung ergeben?

Nicht generell. Zwar sollten viele Betriebe tatsächlich agiler werden und sich beispielsweise fragen, wie sie veränderten Kundenanforderungen besser gerecht werden können. Aber nicht alle Branchen sind gleichermaßen von der Digitalisierung betroffen. Wie viel Agilität zu einem Betrieb passt, hängt auch nicht nur von den Marktanforderungen ab, sondern wird ebenso von seinen Werten oder der gelebten Führungskultur beeinflusst. Oft muss sich zunächst die Kultur verändern, bevor agilere Strukturen geschaffen werden können. Es nützt beispielsweise wenig, flexible Projektstrukturen einzuführen, wenn der Abteilungsleiter nach wie vor bei allem das letzte Wort hat. Und auch innerhalb eines Unternehmens kann der Bedarf ganz unterschiedlich sein. So sind Bereiche wie die Buchhaltung naturgemäß einer geringeren Veränderungsdynamik ausgesetzt. Mehr Agilität ist also nicht automatisch besser.

Ein Unternehmen kann zugleich klassisch und agil aufgestellt sein?

Unter dem Stichwort duales Betriebssystem fordern Veränderungsexperten wie der Harvard-Professor John Kotter sogar ausdrücklich das Nebeneinander beider Organisationsformen. Sie plädieren für Ambidextrie, was bedeutet, dass einerseits agile Netzwerkstrukturen aufgebaut werden, in denen Innovationen entstehen, und andererseits das Tagesgeschäft mit etablierten Prozessen und Hierarchien weitergeführt wird. Das geht letztendlich auch gar nicht anders, denn die Transformation zum agilen Unternehmen funktioniert ja nicht von heute auf morgen. Und im klassischen Kerngeschäft wird, zumindest zu Beginn einer Transformation, auch noch ein Großteil der Umsätze gemacht. Es kommt also immer darauf an, die richtige Mischung aus beidem zu finden.

Wie kann ein Unternehmen konkret vorgehen, um agiler zu werden?

Eine agile Transformation muss immer ganzheitlich erfolgen, damit sie gelingt. Sechs wesentliche Dimensionen beschreibt zum Beispiel das Trafo-Modell der Beratungsfirma HR pioneers, bei der ich wissenschaftlicher Beirat bin: Es braucht eine Vision, an der sich alle orientieren, Strukturen und Prozesse müssen neu definiert werden und die Rollen der Führungskräfte ändern sich maßgeblich. Betroffen sind auch Personalinstrumente wie Karriere- und Vergütungsmodelle, die entsprechend angepasst werden müssen. Vor allem kommt es aber darauf an, eine Veränderungskultur zu etablieren, die auf Vertrauen und Transparenz basiert. Damit die gesamte Organisation in den Change-Prozess eingebunden ist, plädiere ich dafür, Transformation Center einzurichten, in denen die Kompetenzen von Personal-, Organisations- und Unternehmensentwicklung gebündelt werden.

Was bedeutet das für das Rollenverständnis der HR-Experten?

Die Personalabteilung hat in agilen Prozessen vielfältige Aufgaben. Es geht vor allem darum, die betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte für die neuen Arbeitsformen zu befähigen und sozusagen als Transformations-Enabler zu fungieren. Das beinhaltet zum Beispiel, über den Veränderungsprozess aufzuklären, die Einführung agiler Methoden zu begleiten oder bei Raum- und Arbeitsplatzfragen zu beraten. Besonders wichtig ist es, mit passenden Maßnahmen den Kulturwandel zu fördern und die Führungskräfte in ihren neuen Rollen zu begleiten. Nicht zuletzt hat das HR auch eine Vorbildfunktion, indem es beispielsweise die geforderte Transparenz und Vertrauenskultur selbst vorlebt.

Gegenwärtig beschäftigen sich viele Führungsetagen damit, wie ihre Organisationen agiler werden können. Sich schnell und flexibel an Veränderungen anzupassen, gilt als Voraussetzung, um die Folgen des digitalen Wandels zu bewältigen. Dafür notwendige Strukturen und eine entsprechende Arbeitskultur einzuführen, braucht jedoch Zeit. Und auch nicht alle Bereiche profitieren gleichermaßen von mehr Agilität. Unternehmen sollten deshalb differenziert vorgehen und genau prüfen, ob und in welchen Bereichen sie sich agiler aufstellen wollen.

Schon immer sind Firmen mit Wandel konfrontiert – die Fähigkeit, damit umzugehen, ist eine essenzielle Voraussetzung für unternehmerischen Erfolg. In den letzten Jahren ist das Thema aber besonders aktuell geworden, denn die Digitalisierung hat nicht nur die Veränderungsgeschwindigkeit rapide erhöht, ihre Auswirkungen sind oft auch sehr tief greifend. Viele halten Agilität für den zentralen Erfolgsfaktor, um wettbewerbsfähig zu bleiben und am Markt zu überleben. Der Begriff Agilität ist allerdings nicht exakt definiert. In der Praxis sind agile Unternehmen durch schlanke, flexible und vernetzte Strukturen charakterisiert, die  sich am Kundennutzen orientieren und frühzeitig auf Marktentwicklungen reagieren. Ihre Beschäftigten arbeiten bereichsübergreifend zusammen und organisieren sich in Teams weitestgehend selbst.

Treiber von Veränderungen können von außen oder von innen kommen

Ob dieses Modell für den eigenen Betrieb oder einzelne Bereiche passt, hängt davon ab, mit welchen Veränderungen man es zu tun hat. Der  Anstoß zum Wandel muss zu zudem nicht zwingend in der Umwelt liegen. Veränderungen innerhalb der Organisation, wie beispielsweise  der zunehmende Wunsch der Belegschaft nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, können ebenso dazu führen, dass sich ein Unternehmen anpassen muss.

Bei der Frage, wie grundlegend eine Veränderung sein sollte, hilft die folgende Unterscheidung: Handelt es sich um einen Wandel erster  Ordnung, bei dem sich ein Markt nur teilweise verändert und sich bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen fortlaufend weiterentwickeln? Dann können klassische Strukturen durchaus den richtigen Rahmen bieten und es geht vor allem darum, das Bewährte weiter zu verbessern. Oder geht es um disruptive Innovationen, die bestehende Technologien oder Produkte vollständig verdrängen und die Branche vielleicht sogar zu neuen Geschäftsmodellen zwingen? Letzteres wäre ein Wandel zweiter Ordnung, der immer auch bedeutet, dass sich die Erfolgsfaktoren für Unternehmen verändern. In einem solchen Fall muss es sich nicht nur umorganisieren, sondern damit anfangen, ganz neu zu denken, wenn es überleben will. Agile Arbeitsorganisation kann dafür geeignete Anhaltspunkte liefern.

Veränderungsprozesse erfordern ein ganzheitliches Verständnis

Damit die Transformation zur agilen Organisation gelingt, ist es wichtig, mehrdimensional vorzugehen. Sich also nicht nur auf die Schaffung neuer, vernetzter Strukturen und Prozesse zu beschränken, sondern letztendlich die gesamte Unternehmens- und Führungskultur auf den Prüfstand zu stellen. Welche grundlegenden Werte die bisherige Zusammenarbeit eines Betriebes prägen, beeinflusst in hohem Maße, ob das Unternehmen tatsächlich reif ist für mehr Agilität. Denn Organisationsdesign und Arbeitsverständnis der Mitarbeiter müssen zueinander
passen, wenn es funktionieren soll. Es kann deshalb notwendig sein, bei der Belegschaft zunächst eine gemeinsame Grundhaltung zu schaffen, beispielsweise eine Vertrauens- und Transparenzkultur, bevor konkrete Veränderungsprojekte gestartet werden können.

Ob der Change-Prozess zum Erfolg führt, ist nicht nur von den inhaltlichen Veränderungen abhängig. Auch die Art und Weise, wie die Veränderung organisiert wird, spielt eine wichtige Rolle – Geschäftsführung, Führungskräfte und HR sind hier gleichermaßen gefragt. Mitarbeiter wollen informiert und einbezogen werden, sie wollen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Bedenken ernst genommen werden und vor allem auch den Sinn einer Veränderung verstehen – nur dann werden sie das Ergebnis als positiv und gerecht beurteilen. Wichtig ist zudem, sie in den neuen, agilen Instrumenten und Tools umfassend zu schulen und ihnen bei Problemen und Konflikten beratend zur Seite zu stehen.

Stabile Kernprozesse sind das Gegengewicht zum Wandel

Doch selbst wenn sehr viel in Schulungen und Trainings investiert wird, gibt es die agile Kultur nicht von heute auf morgen. Das Gelernte muss im Alltag eingeübt, getestet und manches auch wieder verworfen werden. Der Weg zur agilen Organisation ist kein 100-Meter-Lauf, sondern eher ein Gelände-Parcours, der auch mal Pausen, Umwege und vor allem einiges an Ausdauer erfordert. Möglicherweise befindet sich auch nur ein Teil der Mitarbeiter im agilen Trainingslager, weil manche Bereiche gar nicht dafür vorgesehen sind. Sie sind stattdessen dabei, das Kerngeschäft voranzubringen, das als stabiles Gegengewicht zu den agilen Organisationseinheiten eine bedeutende Rolle spielt.

Agilität ist demnach kein Allheilmittel. Sie passt nicht zu jedem Betrieb und ist nicht auf jede Herausforderung die richtige Antwort. Und auch innerhalb einer Firma ist die Notwendigkeit, sich an Veränderungen anzupassen, oft unterschiedlich stark ausgeprägt. In der Praxis gibt es deshalb klassische und agile Strukturen nebeneinander – jedes Unternehmen sollte sorgfältig für sich ausloten, welches Mischungsverhältnis zu seinen Rahmenbedingungen passt.

endstock/Fotolia.com

Sie möchten in Ihrem Unternehmen Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) einführen? Oder neue Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Region Stuttgart entdecken? Mit der BeneFit-Datenbank Region Stuttgart helfen wir Ihnen dabei.

Mit der BeneFit-Datenbank Region Stuttgart bietet Ihnen die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart eine umfangreiche Website zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement mit einer Dienstleisterdatenbank und einer Checkliste zur Auswahl von passenden Dienstleistern.

Ergänzend dazu finden Sie auf der Serviceseite grundlegende Informationen zur betrieblichen Gesundheitsförderung, ein Glossar und Links zu weiteren interessanten Webangeboten zum Thema BGM.

Regionale Dienstleister können sich kostenlos in die Datenbank eintragen.

Kooperationspartner der BeneFit-Datenbank sind: IHK Region Stuttgart, Landkreis und Stadt Ludwigsburg und Landkreis Göppingen.

Hier geht es zur Talente-Ausgabe „Gut und gesund arbeiten dank Resilienz“.

Ihr Ansprechpartner

AOK Baden-Württemberg

AOK Baden-Württemberg

Arbeitsbedingungen, mit denen sich Beruf und Privates gut vereinbaren lassen, stehen seit Langem im Fokus der AOK Baden-Württemberg. Seit 2005 können die AOK-Beschäftigten ihre Arbeitszeiten flexibel organisieren, um sich dadurch Freiräume für Familie und private Interessen zu schaffen. Flankierende Angebote zu mobiler Arbeit und Telearbeit bringen weitere Flexibilität.

Mit einem Marktanteil von 44 Prozent ist die AOK Baden-Württemberg Marktführerin unter den gesetzlichen Krankeversicherungen im Land. Ihr Aufgabenspektrum umfasst Leistungen der medizinischen Versorgung und Pflege, aber auch umfassende Angebote in der Gesundheitsförderung und -vorsorge. Neben der Stuttgarter Hauptverwaltung gehören 14 Bezirksdirektionen mit rund 230 Kundencentern zum Unternehmen, in denen sich die Mitglieder persönlich beraten lassen können. Mit insgesamt 10.600 Mitarbeitern zählt die Organisation zu den großen Arbeitgebern im Land. Sie beschäftigt sich seit Langem damit, wie sich Beruf und Familie möglichst gut vereinbaren lassen, allein deswegen, weil drei Viertel ihrer Belegschaft weiblich sind. 2011 wurde die Gesundheitskasse erstmals als familienfreundlicher Arbeitgeber mit dem „audit berufundfamilie“ zertifiziert. Dies war gleichzeitig auch der Einstieg in eine lebensphasenorientierte Personalpolitik. Die Arbeitszeiten spielen dabei eine besonders wichtige Rolle, um die individuellen Lebenssituationen der Beschäftigten noch besser zu berücksichtigen.

Den Wunsch nach flexibler Arbeit gibt es in allen Lebensphasen

2005 wurde erstmals ein einheitliches Arbeitszeitsystem für die gesamte Organisation eingeführt. Auf Grundlage der tariflichen Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden galt nun ein täglicher Arbeitszeitrahmen von 6:30 bis 19 Uhr, für spezielle Bereiche wie den Vertrieb gibt es Sonderregelungen. Seither können die Mitarbeiter in der definierten Spanne Arbeitszeit und Pausen frei gestalten. Damit der Betrieb und die Zusammenarbeit trotzdem reibungslos funktionieren, sind Absprachen im Team wichtig. Abhängig von der konkreten Arbeitsaufgabe werden gemeinsam mit der Führungskraft Spielregeln und Eckpunkte, wie die Erreichbarkeit, den Austausch von Informationen oder gegenseitige Vertretungen für alle verbindlich vereinbart.

Tanja Bühler, AOK Baden-Württemberg

Tanja Bühler, AOK Baden-Württemberg

Um als agiles und immer digitaler werdendes Unternehmen weiter erfolgreich zu sein, ist eine Vielfalt an Lösungen gefragt. Wir legen Wert darauf, die Lebenssituation und die Flexibilisierungswünsche des Einzelnen zu berücksichtigen, bei der Gestaltung von Lösungen aber auch den Bedarf des ganzen Teams im Blick zu haben. Dabei helfen uns das kollegiale Klima in der Belegschaft und die große Bereitschaft jedes Einzelnen, sich sehr stark in die Organisation einzubringen. Wichtig ist es, stabile Eckpunkte im Team zu vereinbaren, die für alle verbindlich sind.

Auf individuellen Zeitkonten lassen sich bis zu 100 Plus- und bis zu 25 Minusstunden ansammeln. Davon profitieren beide Seiten: Arbeitsspitzen können gut bewältigt werden und die Mitarbeiter können zum Ausgleich tageweise kürzer arbeiten oder sogar ganze Tage freinehmen. Über eine Ampelfunktion hat die Führungskraft die Arbeitszeitkonten stets im Blick. Weil die Bedürfnisse der Mitarbeiter vielfältiger werden, denkt das Unternehmen über eine weitere Flexibilisierung durch die Einführung von Zeitwertkonten nach. Arbeitszeit könnte dann auch über einen längeren Zeitraum angespart und später für eine Auszeit oder einen früheren Eintritt in den Ruhestand genutzt werden.

Aktuell sind rund 40 Prozent der AOK Mitarbeiter teilzeitbeschäftigt. Auch 12 Prozent der Führungskräfte arbeiten in Teilzeit – entweder in reduzierter Vollzeit oder im Jobsharing. Der durchschnittliche Arbeitsumfang bei Teilzeitführung liegt bei 70 Prozent der Normalarbeitszeit. Dabei ermutigt die Gesundheitskasse ihre Beschäftigten aktiv, ihre berufliche Entwicklung auch bei einer Teilzeitbeschäftigung voranzubringen. Warum sich die AOK-Mitarbeiter variable oder kürzere Arbeitszeiten wünschen, hat häufig familiäre Gründe. Weitere Anlässe sind zum Beispiel gesundheitliche Probleme, die Übernahme eines Ehrenamts, Weiterbildungen oder Freizeitinteressen. So vielfältig wie diese Bedürfnisse gestalten sich die individuellen Lösungen. Weil auch die AOK ihre Prozesse zunehmend digital organisiert, werden dafür mobiles Arbeiten und Telearbeit immer wichtiger.

Flexibilisierung ist Bestandteil der Führungskräfteentwicklung

Dass die Leitungsebene für den Erfolg flexibler Arbeitszeitmodelle eine zentrale Rolle spielen würde, war den Verantwortlichen von Anfang an bewusst. Die Flexibilisierung und die Gestaltung individueller Lösungen im Team sind daher wichtige Themen in der Führungskräfteentwicklung. Ein neues Kompetenzmodell sorgt heute dafür, dass das Leitungspersonal wichtige Fähigkeiten mitbringt, um die Vielfalt der Wünsche und Anforderungen gut steuern zu können. Leitfäden bieten Führungskräften Hilfestellung, um die Abstimmung in den Teams professionell zu moderieren.

Talente 2,18-grafik-win-win-weiss-projektgruppe

Als einer der ersten Arbeitgeber führte Robert Bosch 1906 den Acht-Stunden-Tag ein. Der Gründer des gleichnamigen Technologiekonzerns engagierte sich sein Leben lang für gute Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten.Bis heute prägt sein Geist das Unternehmen, das sich ausdrücklich zu einer flexiblen und familienbewussten Arbeitskultur bekennt. Das nutzt der Belegschaft und bringt auch wichtige betriebliche Vorteile.

„Wir suchen gemeinsam nach individuellen Lösungen, von denen beide Seiten profitieren“, steht unter anderem in den Unternehmensleitlinien geschrieben. Mit dieser Haltung sorgt Bosch dafür, dass eine flexible Arbeitskultur zunehmend selbstverständlich wird. An eine Win-win-Situation zwischen Arbeitgeber und Mitarbeitern glaubte auch schon der Firmengründer: „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne bezahle.“ Statt einer besseren Bezahlung wünschen sich viele Mitarbeiter heute lieber mehr Spielraum, um ihre beruflichen Ziele und privaten Aufgaben besser zu vereinbaren. Auch die Bosch-Führung ist davon überzeugt: Mehr Flexibilität ist gut für das Unternehmen. Weil zufriedene Mitarbeiter kreativer, innovationsfreudiger und leistungsfähiger sind. Aber auch, weil es sonst gar nicht möglich wäre, das wertvolle Potenzial von Menschen zu erschließen, die zu Hause Kinder betreuen oder Angehörige pflegen müssen oder einfach Zeit für Hobbys und ehrenamtliche Tätigkeiten haben möchten.

Mehr als 100 Arbeitszeitmodelle für eine vielfältige Belegschaft

2013 wurden die ersten Leitlinien für eine flexible und familienbewusste Arbeitskultur formuliert. Ein Jahr später folgten vereinfachte Regelungen für mobiles Arbeiten. Seither können die Bosch-Mitarbeiter Arbeitsort und -zeit frei wählen, wenn es ihre Tätigkeit zulässt. Damit auch die technischen Voraussetzungen stimmen, hat das Unternehmen zusätzlich rund 800 Millionen Euro investiert, um seine weltweit 240.000 Bildschirm-Arbeitsplätze mit modernster Software auszustatten. Zwischenzeitlich gibt es bei Bosch mehr als 100 Arbeitszeitmodelle. Sie reichen von Schichtarbeit über Teilzeit in unterschiedlichem Stundenumfang und Jobsharing bis hin zum mobilen Arbeiten vom Homeoffice oder anderen Standorten aus. Fast uneingeschränkt einsetzbar sind diese Konzepte für alle Verwaltungs-, Forschungs- und Bürobereiche. Für die rund 2.000 Experten des IT-Headquarters in Feuerbach ist es heute bereits völlig normal, zeitlich flexibel zu arbeiten und ihre Aufgaben am Rechner nicht nur im Büro, sondern von zu Hause, unterwegs oder im Café zu erledigen.

Talente 2,18 Sandra Rathmann, Robert Bosch GmbH

Sandra Rathmann, Robert Bosch GmbH

Vertrauen spielt eine wichtige Rolle. Wir machen die Erfahrung, dass die allermeisten Mitarbeiter die  angebotenen Möglichkeiten verantwortungsvoll nutzen und ihren Job
gut machen wollen. Der persönliche Bedarf an Flexibilität darf außerdem kein Hemmschuh für die Karriere sein. Deshalb schreiben wir alle Stellen grundsätzlich in Teilzeit aus. Ausnahmen sind nur möglich, wenn sie gut begründet werden.

Doch auch in der Fertigung bemüht sich der Technologiekonzern darum, flexiblere Bedingungen zu realisieren. „Zwar kann ein Facharbeiter unsere Einspritzpumpen nicht freitags zu Hause in der Garage montieren“, so Dr. Gregor Heemann, Personalleiter von Bosch Powertrain Solutions. „Im Rahmen der festen Schichtzeiten versuchen wir aber auch hier, Teilzeit zu ermöglichen.” Mehr Flexibilität schafft zudem eine App, mit der der verantwortliche Meister in kurzer Zeit seine ganze Truppe erreichen und Ersatz suchen kann, wenn jemand ausfällt.

Eine neue Arbeitskultur kann nicht von oben verordnet werden

Flexible Konzepte brauchen Führungskräfte, die mitziehen und Leistung an Arbeitsergebnissen und nicht an der Anwesenheit ihrer Mitarbeiter messen. Um Vorbehalte abzubauen, setzte Bosch auf Vorbilder, die neue Ansätze ausprobieren und ihre Erfahrungen weitertragen. Im Rahmen des Projekts MORE (Mindset Organisation Executives) wurden Mitarbeiter in leitenden Funktionen dazu eingeladen, flexibles Arbeiten zu testen und für mehrere Wochen entweder in Teilzeit oder einen Tag pro Woche im Homeoffice zu arbeiten. Von den mehr als 1.000 Teilnehmern behielten viele ihr gewähltes Arbeitsmodell langfristig bei.

Dr. Gregor Heemann, Robert Bosch GmbH

Dr. Gregor Heemann, Robert Bosch GmbH

Flexibilität muss vom Management authentisch vorgelebt werden. Dafür braucht es Mut und auch die Bereitschaft, Kontrolle abzugeben. Es ist beeindruckend, wie schnell vieles zur  Normalität geworden ist. Vor nicht allzu langer Zeit war eine Führungskraft in Teilzeit noch unvorstellbar. Heute kann ich aus dem Stand mehrere Kolleginnen und Kollegen in Führungspositionen, auch auf Leitungsebene, aufzählen, die von flexiblen Arbeitsbedingungen
Gebrauch machen.

Unterstützt wird der Wandel durch intensive Kommunikation, die den Sinn und die Vorteile von mehr Flexibilität ins Bewusstsein der Belegschaft rückt. Auch veränderte Raumkonzepte spiegeln die Veränderungen wider: Viele Mitarbeiter haben heute keinen festen Arbeitsplatz mehr. Wenn sie im Betrieb sind, suchen sie sich einen passenden Ort, der für die jeweilige Tätigkeit wie auch Besprechungen ideale Bedingungen bietet. Dafür stehen Kreativräume, Ruhezonen oder Loungebereiche, aber auch Einzelarbeitsplätze zur Verfügung.

Dr. Andreas Hoff

Dr. Adreas Hoff

Wie Betriebe und ihre Mitarbeiter Arbeitszeit organisieren, steht seit mehr als 30 Jahren im Mittelpunkt der Tätigkeit von Dr. Andreas Hoff. 1983 hat er die erste Arbeitszeitberatung in Deutschland gegründet und seither über 2.000 Projekte persönlich begleitet. Bei Arbeitgebern und bei Gewerkschaften ist er als Berater und Gutachter gefragt. Bereits zweimal wählte das Personalmagazin den Arbeitszeitexperten in den Kreis der 40 führenden Köpfe im Personalwesen. Wir wollten von ihm wissen, wie mittelständische Unternehmen ihre Arbeitszeitsysteme anpassen und weiterentwickeln können, um einem sich ständig verändernden wirtschaftlichen Umfeld gerecht zu werden.

Talente: Herr Dr. Hoff, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der optimalen Gestaltung der betrieblichen Arbeitszeit. Was macht bis heute den Reiz dieses Themas für Sie aus?

Andreas Hoff: Bei nahezu allen wichtigen Aspekten, mit denen Betriebe zu tun haben, ist die Arbeitszeit ein wesentlicher Stellhebel: Sie beeinflusst beispielsweise die Wettbewerbsfähigkeit am Absatzmarkt genauso wie ihre Arbeitgeberattraktivität. Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatem spielen flexible Arbeitszeiten eine zentrale Rolle, sie haben Einfluss auf die Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter und sind ganz grundsätzlich ein bestimmendes Element der Unternehmenskultur. Arbeitszeit ist also ein äußerst vielfältiges und spannendes Thema.

Digitale Technologien machen es möglich, unabhängig von Ort und Zeit rund um die Uhr zu arbeiten. Grenzen setzen das Arbeitszeitgesetz sowie tarifliche und betriebliche Regelungen. Wie sehen ideale Rahmenbedingungen aus, die unserer modernen Arbeitswelt gerecht werden?

Die gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit, einer Mindestruhezeit und der Sonntagsruhe lassen ausreichend Spielraum, um die Anforderungen der Digitalisierung zu bewältigen. Ich halte es für sinnvoll, Tarifregelungen als Eckwerte zu nutzen und Sondersituationen entsprechend dem Bedarf individuell zu regeln, beispielsweise auf Basis einer 35-Stunden-Woche. Mein Lieblingsmodell ist eine von den Mitarbeitern immer wieder frei wählbare Vertragsarbeitszeit zwischen 30 und 40 Stunden in der Woche.

Mehr Selbstverantwortung für die Mitarbeiter bedeutet gleichzeitig mehr Organisationsaufwand für alle Beteiligten. Können mittelständische Unternehmen diesem Anspruch gerecht werden?

Auf kurzfristige Veränderungen reagieren zu müssen, ist für die Mittelständler nichts Neues. Schon immer mussten sie beispielsweise schwankende Auftragslagen bewältigen und ihr Personal entsprechend flexibel einsetzen. Nichts anderes passiert, wenn ein Mitarbeiter zum Beispiel seine Arbeitszeit zunächst verringern und später wieder aufstocken will. Es ist doch gerade die Stärke kleinerer Betriebe, flexibel mit ihren Beschäftigten umzugehen und individuelle Absprachen zu treffen. Künftig wird das sogar noch mehr an Bedeutung gewinnen, wenn die Betriebe als Arbeitgeber attraktiv und konkurrenzfähig bleiben wollen.

Wie kann ein Betrieb vorgehen, um das optimal passende Arbeitszeitsystem zu finden?

Entscheidend ist, die Mitarbeiter in die Konzeptentwicklung einzubinden. Das sollte vor allem im Rahmen von Workshops und Gruppendiskussionen geschehen. Die Beschäftigten haben in der Regel ein sehr gutes Gefühl dafür, wie sich ein vorhandenes System verbessern und weiterentwickeln ließe. Ich empfehle, fünf bis zehn Prozent der Belegschaft und möglichst Vertreter aus allen Mitarbeitergruppen zu beteiligen. Wenn das neue System steht, sollte es in einer Pilotphase möglichst im gesamten Betrieb getestet und anschließend evaluiert werden. Danach kommt die Entscheidung: Weitermachen, ja oder nein – und eventuell mit welchen Änderungen? Alle circa zwei Jahre sollte ein eingeführtes Konzept auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls angepasst oder ersetzt werden.

Flexible Arbeitszeitmodelle sollen den Spielraum der Beteiligten erhöhen. Welche Punkte müssen in einem guten System trotzdem geregelt werden?

Das hängt davon ab, um welches System es sich handelt. In selbstgesteuerten Konzepten, die auf Vertrauen basieren, braucht es einen allgemeinen Arbeitszeitrahmen und Spielregeln für die Erreichbarkeit des Einzelnen oder der Gruppe. Dabei ist außerdem die Frage zu klären, was als Arbeit definiert wird. Arbeitsverträge können hier Anhaltspunkte bieten. Auch die Grenzen für Plus- und Minusstunden auf den Arbeitszeitkonten müssen gegebenenfalls festgelegt sein. In disponierten Systemen, wie den Schichtmodellen, ist ein guter Planungsprozess erforderlich mit ausreichend Vorlaufzeit, damit sich die Mitarbeiter auf Änderungen ihrer Schichten einstellen können. Geregelt werden sollte zudem, wie die Wünsche der Beschäftigten bei der Planung berücksichtigt werden können.

Man sitting on terrace and working on his laptop while on holiday vacation, freelancer lifestyle flexible mobile office

Daxiao Productions/Fotolia.com

Für Unternehmen gibt es zahlreiche Gründe, ihre Arbeitszeiten flexibel zu gestalten. Kunden erwarten heutzutage Beratung, Verkauf und Service möglichst rund um die Uhr. Mitarbeiter dagegen wünschen sich Freiräume, um vielfältige Lebenssituationen mit den beruflichen Anforderungen unter einen Hut zu bringen. Und die Firmen selbst brauchen Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen sie beispielsweise auf schwankende Auftragslagen reagieren können. In einem gut konzipierten Arbeitszeitmodell gelingt es, den Anforderungen unserer digitalen Arbeitswelt gerecht zu werden und dabei die vielfältigen Interessen zu berücksichtigen.

Grundsätzlich versteht man unter flexiblen Arbeitszeiten alle Vereinbarungen, die von der Normalarbeitszeit abweichen. Das kann die Dauer oder die Lage betreffen. Wann und wie lange gearbeitet wird, beeinflusst viele betriebliche Prozesse, beispielsweise die Maschinenlaufzeiten, die Liefertreue, den Kundenservice oder die Qualitätssicherung. Gleichzeitig wirken sich Arbeitszeiten aber auch tiefgreifend auf das soziale Leben der Beschäftigten aus. Mit ihrer Regelung wird automatisch mitbestimmt, wie viel Spielraum für Familie, Freizeit und Erholungsphasen bleibt.

Zu viel Flexibilität hat für Betrieb und Mitarbeiter negative Folgen

Digitale Technologien ermöglichen es heute relativ einfach, Arbeit flexibel zu organisieren. Wird dies mit Augenmaß und Weitsicht genutzt, entstehen für alle Betroffenen wertvolle Chancen. Dass Arbeit fast immer und überall stattfinden kann, macht es jedoch auch zunehmend schwieriger, sein Privatleben davon abzugrenzen. Mitarbeitern, denen dies nicht gelingt, fehlt es früher oder später an Ausgleich und wichtigen Erholungspausen. Langfristig entstehen so Risiken für die Sicherheit, spürbare Leistungseinbußen und im schlimmsten Fall auch längere Ausfallzeiten. Ein ausgewogenes Arbeitszeitmodell muss deshalb nicht nur die betrieblichen Interessen berücksichtigen, sondern genauso engagiert die Gesundheit und das Privatleben der Beschäftigten schützen.

Viele Firmen haben ihre Arbeitszeit bereits flexibel organisiert. Modelle wie Gleitzeit, Schichtarbeit, Teilzeit, Kurz- und Mehrarbeit kommen fast überall zum Einsatz, Arbeitszeitkonten sind gängige Praxis. In einer agilen und digitalen Arbeitswelt gewinnen Modelle an Bedeutung, in denen die Mitarbeiter selbstverantwortlich arbeiten und keine Anwesenheitspflicht mehr besteht. Dazu gehören Arbeit auf Vertrauensbasis, Telearbeit und mobiles Arbeiten. Bei solchen Konzepten sollten die Beschäftigten dabei unterstützt werden, mit der neu gewonnenen Freiheit gut umzugehen. Ihr Erfolg hängt deshalb auch davon ab, wie die Konzepte im Detail ausgestaltet werden. Um ausreichend Erholung zu garantieren, braucht es jedenfalls in allen Systemen klare Konturen, die die Flexibilisierung begrenzen.

Gesetzliche Regelungen schaffen Sicherheit und Verbindlichkeit

Den Rahmen dafür setzt das Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das auch den Gestaltungsspielraum für die Vereinbarungen der Tarifparteien vorgibt. Es begrenzt die Arbeitszeit und lässt gleichzeitig Spielraum für flexible Regelungen. Relevanz hat auch das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), das eine Gefährdungsbeurteilung vorschreibt. Diese überprüft, ob Arbeitszeiten und Schichtpläne zu physischen oder psychischen Belastungen führen. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter bei der Gestaltung der Arbeitszeiten regelt das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG).

Welches Arbeitszeitmodell für welchen Betrieb das richtige ist, lässt sich am besten gemeinsam mit allen Betroffenen beurteilen. Die Verantwortlichen sollten mit der Belegschaft, dem Betriebsrat und gegebenenfalls externen Experten diskutieren, wo die Stärken und Schwachstellen des aktuellen Arbeitszeitsystems liegen. In entsprechenden Workshops können auch die Bedürfnisse und Anforderungen an ein neues Konzept formuliert werden. Oft müssen sich die Beteiligten allerdings erst darüber informieren, welche Modelle zur Flexibilisierung es überhaupt gibt. Bei Ansätzen, in denen die Beschäftigten nicht mehr ausschließlich im Betrieb oder zu üblichen Kernzeiten arbeiten, sollte außerdem ein gemeinsames Verständnis davon entwickelt werden, was als Arbeit gilt.

Wer Veränderungen plant, muss die Menschen einbinden

Bevor ein konkretes Modell ausgewählt wird, ist es sinnvoll, die Ziele und alle Anforderungen in einem Pflichtenheft zusammenzufassen. Ist die Entscheidung für ein Konzept gefallen, sollte dieses zunächst für einen befristeten Zeitraum getestet werden. Daraufhin lässt sich mithilfe von Fragebögen und Workshops bewerten, inwiefern sich die Erwartungen erfüllt haben. Abschließend kann dann geklärt werden, ob das Arbeitszeitmodell, gegebenenfalls mit gewünschten Veränderungen, definitiv eingeführt werden soll. Die wesentlichen Eckpunkte des Arbeitszeitsystems werden festgehalten. Sie berücksichtigen die Gegebenheiten der jeweiligen Betriebe und regeln individuelle Aspekte wie beispielsweise die Zeiterfassung oder in welchem Zeitrahmen gearbeitet wird. Ein durchdachtes Konzept hat großen Einfluss darauf, wie effizient sich ein Betrieb organisieren kann und ob er in der Lage ist, auf Veränderungen kurzfristig zu reagieren. Es ist damit heutzutage ein besonders wichtiger Faktor, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Flexible Arbeitszeiten sind außerdem auch ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Arbeitgeberattraktivität. Denn immer mehr Mitarbeiter wollen statt einer Gehaltserhöhung lieber mehr Freiraum für die Familie und Zeit für ihre privaten Interessen.

Neue Mitarbeiter müssen nicht nur fachlich, sondern auch menschlich in ein Unternehmen passen, wenn sie sich dort langfristig wohlfühlen und zum Erfolg beitragen sollen. Dazu reicht es nicht aus, dass sie das Qualifikationsprofil einer Stelle erfüllen und einen makellosen Lebenslauf vorweisen können. Kurzum: Es geht nicht darum, die Besten zu finden. Die Schlüsselfrage beim Recruiting lautet vielmehr: Wie finden wir die Richtigen? Antworten darauf beginnen bei der Gestaltung der Unternehmenskultur und schließen auch Kontakte zu ehemaligen Kollegen mit ein.

FotolEdhar/Fotolia.com

FotolEdhar/Fotolia.com

Es passiert häufiger, als den Verantwortlichen lieb ist: Schon wenige Wochen nachdem ein Arbeitsvertrag unterschrieben wurde, ist klar: Das wird keine Beziehung auf Dauer. Der oder die Neue und das Team haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie miteinander arbeiten und umgehen wollen. Obwohl es auf dem Papier quasi perfekt war, passt es im Alltag einfach nicht zusammen. Die Folgen einer solchen Fehlbesetzung sind teuer: Denn Fluktuation und unbesetzte Stellen verursachen nicht nur hohe Rekrutierungskosten, sondern sorgen auch für Frustration und sinkende Produktivität in den betroffenen Teams.

Passt schon: Gemeinsame Werte helfen bei der Zusammenarbeit

Ein ganzheitliches Recruiting muss daher herausfinden, ob ein Kandidat nicht nur fachlich, sondern auch mit seinen Einstellungen, Interessen und der Persönlichkeit zum Arbeitgeber passt. Ob es zu einer längerfristigen Verbindung kommt, hängt ferner davon ab, wie gut sich die Rahmenbedingungen mit dem aktuellen Lebensmodell des Bewerbers vereinbaren lassen. Wie flexibel wird die Arbeit im Betrieb organisiert? Wie kommunizieren die Mitarbeiter und Teams untereinander, welche Rolle spielen die Führungskräfte? Das alles sind wesentliche Aspekte, zu denen jede Firma eigene Spielregeln hat und auch die Bewerber ihre Ideen und Wünsche mitbringen.

Um zu entscheiden, ob ein Kandidat für ihn der richtige ist, sollte ein Arbeitgeber zuerst wissen, was ihn selbst ausmacht und was ihm wirklich wichtig ist. Das Bewusstsein über die eigene Firmenkultur ist Voraussetzung für ein glaubwürdiges Employer Branding und gleichzeitig das Fundament jeder Recruitingstrategie. Betriebe, die ihr Innenleben erforschen und die Ergebnisse unverstellt nach außen präsentieren, wecken das Interesse von Menschen, die ähnliche Wertvorstellungen haben. Und sie sorgen gleichzeitig dafür, dass sich Bewerber keine falsche Vorstellung von ihnen machen. HR-Experten sind darüber hinaus auch hilfreiche Partner, wenn die eigene Kultur weiterentwickelt werden soll, beispielsweise um die Anforderungen jüngerer Generationen besser berücksichtigen zu können.

Bewerber wollen Wertschätzung spüren

Attraktive Rahmenbedingungen und eine angenehme Firmenkultur reichen allerdings noch nicht aus, um die richtigen Mitarbeiter für sich zu gewinnen. Bewerber wollen heute aktiv von Unternehmen angesprochen werden und legen Wert auf einen Austausch auf Augenhöhe – das gilt ganz besonders für gefragte Zielgruppen wie beispielsweise Ingenieure oder Softwareentwickler. Den Zuschlag bekommt letztendlich der Arbeitgeber, der nicht nur einen guten Job anbietet, sondern sich am meisten um den Kandidaten bemüht. Die Rolle einer positiven Candidate Experience ist für den Rekrutierungserfolg außerordentlich wichtig. Dazu gehört es beispielsweise, dass Anfragen schnell beantwortet werden, die Recruiter vorbereitet in die Interviews kommen, es Gelegenheit zum Austausch mit den Fachbereichen gibt und insgesamt ein wertschätzender Umgang gepflegt wird.

Recruiting bedeutet heute deshalb vor allem intensive Beziehungsarbeit – die Kontaktpflege fängt schon lange vor der Bewerbungsphase an. Noch während der Schul- oder Studienzeit gibt es im Rahmen von Bildungspartnerschaften oder Praktika erste Berührungspunkte zwischen jungen Menschen und einem Unternehmen. Aber auch gute Beziehungen zu ehemaligen Kollegen können sich lohnen, denn manch einer kam schon zum ehemaligen Arbeitgeber zurück oder hat ihn an Freunde weiterempfohlen. Um mit den richtigen Personen in Kontakt zu kommen, sind Mitarbeiterempfehlungen ein sehr erfolgversprechendes Instrument – heute helfen dabei außerdem die neuen digitalen Technologien.

Computer entlasten und schaffen Zeit für persönlichen Austausch

Im Rahmen von Active-Sourcing-Prozessen können Algorithmen beispielsweise in den sozialen Medien nach passenden Profilen suchen und eine Shortlist mit Kandidaten erstellen, die dann ins Gespräch eingeladen werden. Chatbots können erste allgemeine Fragen zum Unternehmen und zum Bewerbungsprozess beantworten und so die Recruiter entlasten und den gesamten Prozess schneller machen. Möglichkeiten zur Videobewerbung und Online-Fragebögen helfen bei der ersten Einschätzung der Bewerber. An ihre Grenzen kommen die neuen Technologien dann, wenn sie beurteilen sollen, ob ein Kandidat mit seiner Persönlichkeit eine Bereicherung für die Unternehmenskultur werden kann und sie ihn für die gemeinsame Sache begeistern sollen. Das gilt vor allem, wenn ein interessanter Bewerber nicht dem klassischen Anforderungsprofil entspricht. Denn Algorithmen haben weder Herzblut noch Bauchgefühl und können die Arbeit der Personaler deshalb nicht ersetzen, sondern nur sinnvoll ergänzen.